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Die gute Seele von Gambia12 min read

16. März 2020

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Die gute Seele von Gambia12 min read

Kerstin Gebhardt will Lösungen gegen die Flüchtlingskrise – vor Ort in Afrika

20 Meter unter der ausgedörrten afrikanischen Erde graben sich zwei Männer langsam in die Tiefe. Es geht nur Zentimeter für Zentimeter voran, es wird per Hand geschuftet. Die Frauen des Dorfes Kitty in Gambia warten sehnsüchtig, dass der lang ersehnte Brunnen bald fertig wird. Möglich gemacht haben das Kerstin Gebhardt und ihre Mitstreiter. Sie gründeten einen privaten Verein, der sich vor allem um lokale Gartenprojekte kümmert. „Damit erreichen wir mehr, als es staatliche Entwicklungshilfe vermag“, glaubt Gebhardt.

„Deutschland hat die staatliche bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Gambia 1995 aufgrund der schlechten Menschen­rechtslage und autokratischen Regierungsführung eingestellt“, heißt es aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Seit anderthalb Jahren herrscht Demokratie in dem westafrikanischen Mini-Staat, das hat sich auch bis ins Ministerium herum gesprochen. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam.

Kerstin Gebhardt bringt das auf die Palme. Schon jetzt sei es so, dass die kleinen Vereine, die von Privatleuten betrieben werden, die Arbeit der Regierung machten: „Wir sammeln privat Geld, nehmen unseren Jahresurlaub, fliegen auf eigene Rechnung da runter – es ist eigentlich beschämend für unser Land, dass da nicht mehr kommt“.

In den vergangenen vier Jahren hat der Verein gemeinsam mit den Menschen vor Ort im Dörfchen Kitty große Gärten angelegt, Brunnen gebohrt, Zäune gebaut und Bewässerungssysteme eingebuddelt. Vor allem aber versuchen sie, die Menschen vor Ort zum eigenständigen Handeln und Denken zu ermuntern. „Die Leute hier müssen die Arbeit machen, wir können nur die Grundlagen schaffen und das Ganze anschieben“, sagt Gebhardt, die Regionalbereichsleiterin eines großen deutschen Entsorgungsunternehmens ist. „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist das Leitmotiv des Vereines „Hand in Hand“.

Ortstermin. Sieben Frauen und zwei Männer vom Verein kommen in einem klapprigen Bus zum Feld gefahren. Die Sonne brennt, 35 Grad sind hier in der Trockenzeit normal. Sie werden schon erwartet. Die große Schar aus Kindern und Frauen ist neugierig, was die Deutschen mitgebracht haben. Dieses Mal ist es vor allem Saatgut, einige Werkzeuge, ein großes Netz zum beschatten der Frühbeete. Und für die Kinder Luftballons. Die Freude ist riesig, alle schnattern durcheinander.

Gebhardt aber interessiert sich vor allem für die Bewässerung. Der neue Brunnen dauert noch. „Wir müssen tiefer als geplant, denn bisher kommt kein Wasser“, erklärt einer der Arbeiter. Auch die existierende Anlage macht Probleme, wahrscheinlich ist der Druck der installierten Pumpe zu gering. Ein Solarpaneel ist kaputt, es scheint Energie zu fehlen. „So geht das hier immer“, grollt sie. Wer das teure Paneel zerstört hat, weiß keiner, alle waschen ihre Hände in Unschuld. Manchmal fühlt sie sich, als hätte sie sich die Probleme eines ganzen Kontinents aufgebürdet. „Wie sollte ich ahnen, dass wir zwar einen Zaun um einen Garten bauen, damit die Tiere die Pflanzen nicht fressen, aber die Tür ständig offen steht?“, fragt die 54-Jährige und rollt mit den Augen. Oder dass wieder mal jemand den Hahn vom Wassertank geschlossen hat, so dass das dringend benötigte Nass nicht in die eigens gebauten Wasserbecken gelangen kann, von wo aus die Frauen mit Kannen die Beete wässern?

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Doch das sind nicht die einzigen Probleme. Im 15 Kilometer entfernten Dörfchen Kabekel läuft es nicht, wie es soll. Der Dorfälteste war auf den Verein zugekommen und wollte Hilfe beim Anlegen eines Gemeinschaftsgartens. „Ganz schwierige Sache“, seufzt Kerstin Gebhardt, „dort engagieren sich vor allem die Frauen, während die Männer lieber unter dem Mangobaum ruhen. Mal sehen, ob sie wenigstens endlich den Zaun fertighaben, den wir finanziert haben“. Beim Treffen vor Ort spielt eine Kapelle mit Saxophon und Trommlern auf, die Frauen tragen traditionelle Gewänder und tanzen. Der Dorfälteste hält eine Rede, entschuldigt sich beflissen für die Verzögerungen am Projekt, beklagt den kaputten Wassertank, offeriert Tomaten und Paprika für die Gäste aus Deutschland. Irgendwann hat Gebhardt genug und grätscht dem Mann in die Parade: „Können wir jetzt zum Garten gehen?“

Vor Ort dann Ernüchterung. Wildwuchs, trockene Erde. Lediglich ein paar Mini-Beete sind kultiviert worden, die hängenden Blätter zeigen die mangelnde Pflege. Entschuldigend breitet der Dorfälteste die Arme aus: „Der Zaun ist ja erst letzte Woche fertig geworden. Vorher konnten wir nichts machen“.  Doch er ist durchschaut. „Ein reines Schaubeet für uns. Die denken, sie können uns etwas vor machen“, konstatiert Gebhardt. Inzwischen ist auch klar: das Tomaten-Geschenk stammt vom Markt, die – bezahlte – Kapelle reiste aus dem benachbarten Senegal an. Als dann noch herauskommt, dass das Geld aus dem Verkauf gefällter Bäume auf dem Grundstück nicht wie vereinbart für die weitere Entwicklung des Gartens, sondern angeblich für Verpflegung ausgegeben wurde, platzt der Vorsitzenden der Kragen. Nach Beratung mit den Mitgliedern setzt sie dem Dorfältesten ein Ultimatum. Wenn nicht binnen einer Woche deutliche Fortschritte bei der Beräumung des Geländes zu sehen sind, werde man sich aus dem Projekt zurückziehen. Die Frauen des Dorfes sitzen verschüchtert am Rand. Sie verstehen kein Englisch. Ob die Ansage richtig übersetzt wird, ist keinesfalls sicher – der Dorfälteste wird versuchen, sein Gesicht nicht zu verlieren. Kerstin Gebhardt weiß: „Verantwortung zu übernehmen, fällt vielen hier wirklich schwer, es ist schlicht neu für viele. Es ist ein Dilemma, zum wahnsinnig werden“. Es ist deutlich zu merken, wie ihr der Misserfolg an die Nieren geht, wie sie fast körperlich leidet, wie sie Erklärungen sucht. Nachts schläft sie kaum, mehr als vier Stunden sind es selten.

Der Grund dieses beinahe fanatischen Engagements findet sich in Gebhardts Kindheit. Schon als Vierjährige faszinierte sie der Schwarze Kontinent, und sie wünschte sich zu Weihnachten „Stielaugen“ – damit sie bis nach Afrika schauen könne. „Ich wuchs mit meiner Oma auf, die noch kriegsgeprägt war, und da hieß es immer, Kind, iss richtig. In Afrika aber hungerten die Kinder, das bekam man ja früh mit. Da war mir klar: dort will ich mal helfen“. Das junge Mädchen studierte zielgerichtet Agrarwirtschaft mit den Fachgebieten Veterinärmedizin, Ackerbau und Landtechnik, bewarb sich noch zu DDR-Zeiten für einen Einsatz in Kenia. Die Schwangerschaft kam dazwischen, aber sie schwor sich, sobald ihr Sohn sein erstes eigenes Gehalt bekäme, würde sie endlich durchstarten.

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Gambia wurde es eher zufällig, erste Reisen folgten, später ließ sie sich zweimal für ein Vierteljahr unbezahlt von der Arbeit freistellen. So lernte sie Land, Leute, Sitten und Gebräuche genau kennen. Gebhardt spricht Klartext, erregt sich, streitet. Warum beinahe jede Kleinigkeit in Westafrika so schwer fällt, hat sie sich oft gefragt. Dass die Europäer bei der Kolonisierung den Einheimischen das Denken ausgetrieben haben, sei ein Grund: „Erst seit den 60er Jahren herrscht hier Unabhängigkeit. Da war nicht aufzuholen, wozu man in Europa 300 Jahre oder mehr benötigt hat“. Die mangelnde Schulbildung vor allem bei Frauen ist ein weiterer Hinderungsgrund. Bei sieben oder acht Kindern reicht in den Familien das Schulgeld eben nur für ein Kind, oftmals nicht mal für das.

Viele Afrikaner trauen den Weißen nicht, sie mussten allzu oft miterleben, dass nur geholfen wird, wenn auch der Weiße daran verdient. Doch sie gewann die Herzen der Gambier mit ihren eigenen Methoden. Für das erste Gartenprojekt im Dörfchen Kitty sammelte sie über Wochen frühmorgens Algen am Strand, setzte sich aufs Fahrrad und fuhr über eine Stunde durch die heiße Sonne zum Garten. Dort stand sie tief gebeugt mit den Frauen des Dorfes und legte die ersten Beete auf dem kargen Brachland an. „Erst danach vertrauten sie mir“, berichtet Gebhardt. Die Dorfältesten waren die nächsten, die überzeugt werden mussten, das Projekt zu unterstützen. Lange Zeit glaubten sie nicht, dass die seltsame weiße Frau keine Gegenleistungen für ihre Hilfe haben wollte. Sie stellten das Land zur Verfügung, und Gebhardt rang ihnen eine schriftliche Vereinbarung ab, dass die Frauen von Kitty das Land für immer nutzen dürfen. Seither nennen sie Gebhardt dort die „gute Seele“. Doch die Probleme begannen erst. Zum Beispiel wurde schon die Anschaffung der Pfähle für den Zaun zur Geduldsprobe. Es musste Hartholz sein, resistent gegen die allgegenwärtigen Termiten sowie das viele Wasser, das in der Regenzeit alles überschwemmt. Das Holz des Eisenbaums ist geeignet, war in Gambia aber nicht zu bekommen. Also fuhr die unerschrockene Gebhardt in den benachbarten Senegal ins Rebellengebiet, wo sie mit dem Führer der Aufständischen den Preis für eine Lkw-Ladung Holz aushandelte. Das Projekt in Kitty wurde zu einem großen Erfolg. Inzwischen gibt es sogar Wartelisten für die Beete, und wer sich nicht ordentlich kümmert, darf nicht mehr mitmachen.

Doch im Strudel der politischen Ereignisse, welche die Flüchtlingswelle nach Deutschland hervorgerufen hat, drohen Erfolge wie diese unter zu gehen. Studien besagen, dass innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte jeder vierte Afrikaner seinen Kontinent verlassen und nach Europa oder die USA emigrieren möchte. „Eine Menge junge Leute wollen weg, viele müssen sogar“, erzählt Kerstin Gebhardt von ihren Erfahrungen. Sie kennt Fälle, in denen Großfamilien Land und Haus verkauften und danach beengt in nur einem Raum lebten statt wie vorher in drei Zimmern – nur um das Geld zusammen zu bekommen, das man braucht, um einen der Jungen nach Europa schicken zu können. Sie unterliegen oftmals der falschen Vorstellung, dass sie dieses Geld, oft zehntausende von Euro, binnen kürzester Zeit doppelt und dreifach zurückbekämen.

Genährt wird diese absurde Idee von vielen falschen Zeichen, die in die Heimat gesendet werden. Wenn beispielsweise die Ankömmlinge in Deutschland Geld mit Drogen oder anderen kriminellen Geschäften verdienen, erfahren das zwar die Familien in Gambia nicht, aber es hält die Illusion aufrecht, man könne es zu etwas bringen im fernen Deutschland. Das neue Dach, was plötzlich im gambischen Dorf das elterliche Haus ziert, sendet ein deutliches Signal aus: Schaut her, wir haben es geschafft! Es muss also etwas dran sein an der Geschichte vom gelobten Land. „Die glauben, was sie glauben wollen, das ist dort nicht anders als bei uns. Die Logik, dass man in so kurzer Zeit gar nicht so viel Geld verdienen kann, greift hier einfach nicht. Nicht ein einziger Junge erzählt seiner Familie daheim die Wahrheit“, ist sich Gebhardt sicher. Sie berichtet von einem jungen Gambier, der nach Deutschland floh und der jeden Monat 20 Euro zu seiner Familie daheim schickt. Das hält den Anschein aufrecht, ihrem Jungen in Deutschland ginge es gut, und alles sei in bester Ordnung. „Deshalb wollen doch alle nach Deutschland, weil es da Geld gibt, das sie zu einem kleinen Teil nach Hause senden können. In Italien zum Beispiel gibt es kein Geld, nur Sachleistungen“ – für Gebhardt ist das Versagen der deutschen Politik an simplen Beispielen zu fassen.

Um wenigstens ein klein wenig gegenzusteuern, haben Gebhardt und ihre Mitstreiter zu drastischen Mitteln gegriffen. Sie luden ihren Manager „Opa“ ein, um ihm die deutsche Wirklichkeit zu zeigen. Für den Gambier eine einschneidende Erfahrung: er begleitete seine Gastgeber mit zu deren Arbeit, wo das möglich war, schaute sich die Obdachlosen und Trinker auf deutschen Straßen an und besuchte Flüchtlingsheime.

„Es war ein Erweckungserlebnis“, sagt Ronald Berger (54), der den schwarzen Manager mit auf den Schrottplatz nahm, auf dem er arbeitet. „Dass jemand so viel arbeitet, hat er bis dahin nicht gekannt“. Berger ist unanfällig gängigen Vorurteilen gegenüber, er kennt Land und Leute in Gambia und sammelt mit seiner Frau Kerstin fleißig Spendengelder in seiner Gemeinde. Er denkt, es sei eine gute Idee, mehr auf Aufklärung zu setzen und aufzuzeigen, dass Deutschland kein Schlaraffenland ist. „Man sollte mehr Dorfälteste und Respektspersonen wie ‚Opa‘ herbringen, ihnen zeigen, wie unsere Wirklichkeit ist, und sie das daheim berichten lassen“, findet er. „Opa“ erzählt seither jedem in seinem Dorf und in der Umgebung, wie schwer es in Deutschland ist, und wie groß die Langeweile in den Heimen, und wie gering die Chance, bleiben zu dürfen. „Aber viele glauben mir nicht. Als ich von den Obdachlosen in Deutschland berichtet habe, wurde ich teilweise ausgelacht. Das will hier keiner hören“, erzählt „Opa“.

Für Kerstin Gebhardt ist die „verfehlte Entwicklungshilfe“ einer der Hauptgründe für die Massenflucht aus Afrika. „Wir kriegen doch schon seit vielen Jahren nichts Vernünftiges hin“, kritisiert sie, „ein Desaster, der Tod für jedes Entwicklungsland“. Was sie meint: zu wenig Kontrolle, was mit den ausgegebenen Mitteln geschieht, zu wenig Schulungen der Menschen vor Ort, zu wenig Ursachenbekämpfung, zu viel vordergründige Symbolpolitik. „Es gilt als bewiesen, dass Armut und Abhängigkeit größer geworden sind, seit es Entwicklungshilfe gibt“, sagt sie. Es sei viel sinnvoller, vor Ort Einheimische zu schulen, wie man eine Nähmaschine repariert oder eine Fahrradwerkstatt aufzieht, statt subventionierte Nahrungsmittel und Kleidung zu schicken.

Am Ende der Reise steht doch noch ein Erfolgserlebnis. Als die Gruppe wie angekündigt noch einmal nach Kabekel kommt, staunt sie. Das Gelände ist beräumt und neue Beete wurden angelegt. „Sie haben in fünf Tagen mehr geschafft als zuvor in fünf Monaten“, schüttelt Kerstin Gebhardt noch leicht ungläubig den Kopf. Scheinbar haben die Männer des Dorfes den Ernst der Lage begriffen. Eine Garantie, dass das so bleibt, gibt es jedoch nicht, weiß Gebhardt: „Ich bin schon gespannt, wie es im Juli aussieht, wenn ich das nächste Mal hier bin. Ich rechne mit allem“. Überraschen wird sie indes nichts mehr, weder positiv noch negativ. So ist es eben, ihr Afrika: kompliziert, aber vor allem liebenswert. Und deshalb wird Kerstin Gebhardt immer weiter machen. Egal, was da noch alles kommt.