Motorcycle Clubs (MC) Reisen

Go East: Erlebnisse in St. Petersburg6 min read

29. November 2011

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Go East: Erlebnisse in St. Petersburg6 min read

Das war knapp! Der dunkle 7er BMW, der uns soeben rechts (!) mit bestimmt 120 Sachen überholt hatte, raste nur wenige Zentimeter an uns vorbei, schnitt den Presi und schnippelte haarscharf zwischen Road Captain und dem vor uns fahrenden Lkw hindurch. Vielleicht waren wir dem Verrückten zu langsam gewesen auf unserem Weg nach St. Petersburg – holprige Straßen, tiefe Schlaglöcher und jede Menge Verkehr sowie unberechenbare Autofahrer ließen die Durchschnittsgeschwindigkeit sinken. Willkommen in Russland!

Eine Gruppe Biker aus Lübeck, Dresden, Magdeburg und Leipzig hatte sich auf den Weg zur legendären Party des Werewolf MC St. Petersburg gemacht. Organisator Sam aus Dresden und Werwolves-Presi Sergej verbindet eine langjährige Freundschaft, und so gehören die Besuche in Russland für Sam und seine Freunde fast jährlich zum Pflichtprogramm. Nach der beschwerlichen Fahrt durch Polen, Littauen und Lettland stießen im estischen Tallin einige Freunde hinzu, deren Bikes getrailert wurden. Nicht jeder hat soviel Zeit, die ganze Strecke selbst zu fahren.

In Tallin gab es Kontakt zum dortigen MC „Anarchy Brothers“, der die deutschen Gäste durch Tallin führte und zum gemeinsamen Abend in die Sauna einlud. Das Clubhaus war noch nicht fertig, also empfingen uns die Talliner in der Sauna. Die Tische bogen sich, es gab Futter satt, draussen grillten die Prospects – Presi Michail ist Fleischer. Drinnen wurde wieder und wieder auf die Freundschaft angestossen, die fünf Flaschen Wodka, die wir als Gastgeschenk mitgebracht hatten, waren schnell alle.

Wir erfuhren, dass es in Estland auch Bandidos und als Vertreter von Rot-Weiß die Legion 81 gibt. Die Anarchy Brothers, die es seit September 2010 offiziell gibt, aber schon jahrelang zusammen fahren, haben Kontakte zu allen MC, sind aber neutral. Bei ihnen wird nur russisch gesprochen, aber Vorbehalte gegen Esten hätten sie nicht, beteuert Presi Michail. Im ersten baltischen Land, das vor 20 Jahren seine Unabhängigkeit erlangte, gibt es zwar Probleme zwischen Esten und Russen, im Club aber gehe man nicht nach dem Pass. „Hauptsache ist das Motorrad – und das verbindet“, sagt Michail und winkt Otto heran, der ein wenig deutsch spricht und der einzige Este im Club ist. Der bestätigt: „Wir sind alte Freunde mit einem gemeinsamen Hobby. Wer bei uns Prospect werden will, den schauen wir uns an, und wenn wir ihm vertrauen, wird er Prospect“. Nach genau einem Jahr wird dann entschieden, ob mehr daraus wird oder nicht. 14 Member und 5 Proben im Alter zwischen 26 und 52 Jahren kommen aus den unterschiedlichsten Berufen wie Angestellter bei der Stadt Tallin, Mechaniker, Fleischer oder Clubbesitzer. „Seit wir reisen dürfen, nutzen wir das aus, fahren fast jedes Wochenende herum und fünfmal im Jahr auch ins Ausland: Skandinavien, Ukraine, Russland oder zu unseren Freunden von den Moskauer Nightwolves“, erzählt Michail. Das Verhältnis zur Polizei sei gespalten. Vor allem nach den langen Wintern interessieren sich die Ordnungshüter bevorzugt für Helmzulassungen und Geschwindigkeit, aber weniger für laute Auspuffanlagen. Beim Alkohol geht es ebenfalls differenziert zu: „Wenn man mit 0,1 bis 0,3 Promille erwischt wird, kassiert man lediglich eine Verwarnung. Beim zweiten Mal kostet es 1000 Euro, beim dritten Mal gibt es bis zu drei Monaten Führerscheinentzug“, berichtet Vize-Präsident Slava.

Nach einigen Schnapsrunden ging es ins Hotel, denn am nächsten Morgen soll die letzte Etappe nach St. Petersburg zeitig beginnen. Der morgendliche Elan hielt genau 200 Kilometer an, denn in Narva, der estnischen Grenzstadt, zeigte sich wieder mal der ganze Wahn EU-bestimmter Richtlinien. Die Esten hatten just drei Tage zuvor eine neue Regelung in Kraft gesetzt, nach der sich jeder Reisende zuvor an der Grenze per Internet registrieren müsse, um dann in einem zugewiesenen Zeitfenster dort erscheinen zu dürfen! Für Autos waren im Netz für die kommenden fünf Tage keine Zeitfenster mehr frei, für unsere Moppeds ging alles schief, so dass wir in sengender Hitze drei Stunden vor irgendeiner baufälligen Bude warten mussten, bis alles ordnungsgemäß beantragt und bewilligt war. Erst dann konnten wir zur eigentlichen Grenze, wo natürlich gerade Schichtwechsel stattfand, so dass sich dort die nächste halbe Stunde auch nichts mehr drehte.

Anders auf russischer Seite: Stempel für Stempel gab es, dazu einen rustikalen Anschiss auf russisch, weil wir die russischsprachigen Formulare falsch ausgefüllt hatten – und schon eine Stunde später betraten wir russischen Boden. Klar, dass die gleich darauf folgende Polizeisperre für uns die nächste Hürde bedeutete. Ein alter roter Führerschein sowie eine grüne Versicherungskarte ohne den Russland-Zusatz warf bei dem Milizionär Falten auf. Fünf Minuten und je dreißig Euro später ging es aber ungehindert weiter, und bis auf den Vorfall mit dem irren BMW-Raser ging es auch gut voran. Nur in der Innenstadt musste sich der Pulk durch den täglichen Stau schlängeln.

Die selbst fand in Olgina statt, kurz vor den Toren von St. Petersburg. Untergebracht waren wir im ehemaligen Olympiahotel für die olympischen Segelwettbewerbe 1980, die auf der Ostsee stattfanden. Ein gigantischer Komplex, der mit seinem riesigen Festplatz genau den richtigen Rahmen für eine coole Fete bot. Jede Menge Sowjet-Charme, aber dafür eine 24 Stunden lang geöffnete Bar im Hotel – Herz, was begehrst du mehr? Was sich dann auf dem Festplatz versammelte, bot einen Querschnitt der russischen Bikerszene. Crosser, Goldwings, Japan-Heizer, Tourer und natürlich einige Harleys waren zu sehen. Der Eintritt kostete stolze 25 Euro, dafür gab es in zwei Tagen sage und schreibe sieben Live-Bands, darunter „Steel Circus“ mit dem Ex-AC/DC-Drummer Chris Slade. Am Abend ging es gut zur Sache, der Wodka floss nicht nur bei den Old School-Trinkspielen in Strömen und so mancher Rocker schüttelte sein Haupthaar zu den Klängen der jeweils spielenden Band. Zur Verlängerung ging es an die Bar, und das eine oder andere leckere Mädel freundete sich mit einem der angereisten Biker an. Überhaupt, die Mädels: Viele Geschichten geisterten im Vorfeld umher, was die russischen Mädels anbelangt. Was stimmt: Lecker anzuschauen und fein hergerichtet waren die meisten, und schüchtern zeigten sie sich auch nicht. Dass in jedem Zimmer eine Orgie gefeiert wurde, ist guten Gewissens zu dementieren. Wer es wollte, konnte es aber gut darauf ankommen lassen. Manch glückseliges Lächeln war am nächsten Morgen zu beobachten…

Spektakulärer Höhepunkt einer jeden Werwolves-Fete ist die Ausfahrt durch das auch „Venedig des Nordens“ oder von den Bewohnern einfach „Pieter“ genannte St. Petersburg. Vorbei an Eremitage, Winterpalast und Panzerkreuzer Aurora, Isaakskathedrale und über den berühmten Newski-Prospekt geht es einmal quer durch die wunderschöne Innenstadt. An jeder Kreuzung haben Milizionäre den Verkehr für die Parade gestoppt, überall winken die Menschen begeistert. Am riesigen Platz hinter der Eremitage wird gestoppt, die flanierenden Fußgänger fallen wie Raubtiere über die Biker her und lassen sich aufgeregt an den Bikes fotografieren.

Am Abend kracht es noch einmal ordentlich, der Wodka fließt in Strömen, der Platz vor der gigantischen Bühne zum Bersten gefüllt. Im inzwischen aufgebauten Boxring gibt’s richtig auf die Nase beim Freefight nach russischer Art. Ein Vorurteil wurde eindrucksvoll widerlegt. Ein deutscher Biker, der seine Mopped-Schlüssel und den Fotoapparat liegen ließ, bemerkte das erst am nächsten Morgen, als sie ihm an der Rezeption übergeben wurden. Irgendjemand hatte sie gefunden und abgegeben. Man hätte auch völlig unbehelligt zum Tor herausfahren können… Am nächsten Tag geht es zurück, über die 80 km lange Umgehung nach Tallin, Riga, Warschau nach Hause. Ein paar anstrengende, aber aufregende Tage gehen zu Ende. Ein Bikefest ganz anderer Art – ein Besuch lohnt sich!

Wer die Party im kommenden Jahr besuchen möchte: Organisation über www.east-ride.de, Sam Stirl, 0351-3110726.

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