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Gedankenspiel zum Ende des FC Sachsen5 min read

10. Juni 2018

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Gedankenspiel zum Ende des FC Sachsen5 min read

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Grün-Weißes Requiem

„Der Verein wird im Rahmen des Insolvenzverfahrens abgewickelt“, sprach der Insolvenzverwalter. Ich denke nur: Das ist der Gnadenschuss. Und: Danke.

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Es gab da mal einen Fan im Rollstuhl, verziert wie ein Karnevalswagen in Rio, alles in Grün und Weiß, mit einem lächerlich großem Plüschtier als Gallionsfigur. Wir nannten ihn Krücke, obwohl ich ihn niemals je habe laufen oder wenigstens humpeln sehen. Selbst zu Auswärtsspielen war er mit seinem Gefährt unterwegs, immer fleißig die Gegner anpöbelnd, wohl wissend, dass die ihn für einen wehrlosen Krüppel hielten und auch so behandelten, ihm alles durchgehen ließen und sein Gekeife mit einem anerkennenden Bier statt der rächenden Faust beantworteten. Er war ein Idiot, aber er gehörte zu uns.

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Irgendwann in den Neunziger Jahren entschied man sich für den Paradigmenwechsel: Der ewige Underdog sollte nun endlich auch mal Erfolg haben, so richtig, mit höheren Ligen, europäischen sogar.

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Es gab da mal einen Fan, faltig, langhaarig, kurzbeinig. Er trug immer eine Jeansjacke mit abgeschnittenen Armen und eine Jeanshose mit abgeschnittenen Beinen, dazu Sandalen, braun, Modell Jesus. Und wenn ich sage: immer, dann meine ich auch: immer. Wir nannten ihn Salami, ich weiß nicht warum. Bei Auswärtsspielen stand er immer als erstes auf dem Zaun und brüllte sich die Seele aus dem untersetzten Leib. Er wäre ein Gewinnertyp gewesen, wenn das Leben nur aus Spieltagen bestanden hätte. Niemals habe ich ihn bei einer Prügelei gesehen, doch solch verbeulte Gesichtszüge schafft kein Büchsenbier allein. Ich habe ihn weinen gesehen.

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Dieser Tage tritt das konzentrierte Gift hervor, welches zum Niedergang führte. Eigentlich kann man dem Insolvenzverwalter dankbar sein, dass er dieser ungesunden Flora aus Dummheit und Hass die Grundlage entzieht; leider gehen dabei aber auch die schönen Dinge zu Grunde.

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Es gab da mal einen Fan, bullig, mit breitem Schädel und kurzem Haar, verbindlich, zur freundlichen Subversion neigend. Ein Typ, wie man ihn auf nicht enden wollenden Auswärtsfahrten schätzen lernt, weil er mehr als nur drei Sätze am Stück heraus bekam, ohne sich zwischendurch im handwarmen Bier der zerdrückten Blechdosen baden zu müssen. Selbst nannte er sich Stan und wenn man lange genug mit Stan unterwegs war, erfuhr man, dass er eigentlich Silvio hieß und stellvertretender NPD-Ortsgruppenleiter in einem brandenburgischen Kuhkaff war. Und doch empfand ich Mitleid mit ihm, als ihn Thüringer Polizisten nicht ins Stadion ließen, weil er verfassungsfeindliche Symbole als Halsschmuck trug. Scheißbullen.

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Für was stand der Verein eigentlich? Für die ins Absurde gehende Ablehnung der Gegner. Für eine über 30, 40, 50 Jahre alte Underdog-Mentalität, jenem nur geliehenen Leibchen, das beim erstbesten Investor gegen ein quietschbuntes Event-Fähnchen eingetauscht wurde. Für ein Festhalten am Gestern, weil das so schön legendär und nicht mit der Arbeit verbunden war, die das Überleben einfordert, täglich. Für das Beste im Menschen. Für das Beschissenste im Menschen. Oder war da noch mehr?

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Es gab mal einen Fan, der war alt, eloquent, ein Bewahrer der Tradition so wie er sie verstand. Früher war er Hooligan, die damals noch nicht so hießen, und prügelte sich mit den Gästefans der Republik, was damals noch eine Sache der Ehre und nicht der niederschwelligen Gewaltgeilheit gewesen sein soll. „Wir hatten noch einen Ehrenkodex“, begann er immer zu erzählen, als sei er in den Guten Zeiten ein Ritter auf Wallfahrt gewesen. Es war eine simple Regel: „Wenn einer am Boden lag, haben wir aufgehört“. Viele Fäuste habe er fressen müssen, hat aber auch immer ordentlich verteilt. Ich habe ihn wiedergesehen, im Fernsehen, kurz nachdem gegnerische Hooligans eine Weihnachtsfeier überfallen haben. Er war noch älter, dafür weniger eloquent. Ein Gebrochener. Nein, er könne sich nicht vorstellen, woher dieser grenzenlose Hass, diese Gewaltbereitschaft kommt, die sogar Schwerverletzte in Kauf nimmt. Oder schlimmeres. „Wenn einer am Boden lag, haben wir aufgehört. Damals.“

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Zu lange schon hat ein intellektueller Inzest aus Traditionsbewusstsein und vollkommener Realitätsverleugnung in Leipzig-Leutzsch gewirkt. Mit ersterer hat man sämtliche Kritiker weg gebissen und somit die Spaltung des Fanlagers herbei geführt. Dank letzterer gibt man nun eben diesen vom Hof Gejagten die Schuld für den Untergang. Es gibt hierfür auch einen Fachausdruck. Aber der fällt mir nicht ein.

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Es gab mal einen Fan, der war am Arsch: Frau weg, Kind weg, Job weg. Krebserkrankung. Suff. Zahlen und Statistiken hielten ihn mächtig auf Trab, ließen ihm keine Zeit zur Selbstaufgabe: Es waren die Daten der Spieltage. Noch heute sehe ich ihn in der Bibliothek, wie er in den alten Zeitungen nach Artikeln seines Vereins sucht. Mittlerweile wachsen ihm auch wieder Haare, die er zu einer zeitlosen Vokuhila passend zu seinem Oberlippenbart drapiert. Wo steht geschrieben, dass er ein schlechteres Leben als ich, als wir führt? Dennoch mag ich nicht mit ihm tauschen. Lieber bleibe ich ein unglücklicher Sokrates als eine endlos glücklich Beschäftigter ohne Verein. Weil ich ein Feigling bin, der nie ganz sein Herz hergab.

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Der FC Sachsen Leipzig ist tot. Einst bedeutete es mir mehr als alles andere. Heute ist es nur noch Anekdote. Und ich bin nicht unglücklich darüber. Was stimmt mit mir nicht? Oder ist gerade das ein gutes Zeichen?

Schubél

Der Text erschien am 23. Mai 2011 im Blog Flohbu.de (inzwischen eingestellt). Danke an den Autor für die Möglichkeit, diese Zeilen nochmals veröffentlichen zu dürfen. Ein wertvolles Zeitdokument…

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