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Die Novelle vom Mittelmaß17 min read

26. June 2008

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Die Novelle vom Mittelmaß17 min read


Es gibt so Tage, an denen man sich denkt, was war denn das nun wieder? Vor allem, wenn sie sich so vom gewöhnlichen abheben, dass es auch der uninteressierteste Beteiligte mitbekommt. Das ist so, wie wenn man zu Weihnachten mal nicht die obligatorischen Socken-Schlafanzug-After Shave-Geschenke erhält, sondern etwas, das man sich wirklich schon lange gewünscht hat oder das man wirklich gebrauchen kann.

So ein Tag war der Aufstieg mit Turbine.

Als eines der Urgesteine der Fußball-Klasse, die sich selbst leicht selbstwertunterirdisch-geringschätzend als „Volkssport“ bezeichnet, kann Turbine auf große und schöne Tage seiner Existenz zurückblicken. Die Zeitläufe sind längst verklärt abgesteckt, die Siebziger, ach waren das noch Zeiten, und die Achtziger: weißt Du noch? Der letzte Aufstieg liegt zehn Jahre zurück, und das eint die „Volkssportler“ mit den Geld verdienenden (bekommen sollten sie es nicht, denn verdient haben sie es ja meist nicht) Kickern der bekannteren Leipziger Vereine – die Mittelmäßigkeit hatte sie fest im Griff.

An dieser Stelle gehört allerdings ein entschiedenes Plädoyer für die Mittelmäßigkeit. Denn Mittelmäßigkeit hat völlig zu Unrecht einen so schlechten Leumund. Ich glaube, das ist etwas typisch deutsches, wenn schon der 2. Platz dem Mittelmaß zugerechnet wird und alle, die gar nicht auf dem Treppchen erscheinen, schlicht und einfach nicht wahrgenommen werden. Doch wie verkannt ist die Mittelmäßigkeit! Welche Vorteile bietet sie doch! Fernab von Stress und Herzinfarktgefahr mit 44 Jahren, viel näher am Genuß, einem 11-Uhr-Frühstück in der Luise und dem Bad im Naunhofer See, wenn die Sonne noch kräftig brennt, hat die Mittelmäßigkeit eine absolute Berechtigung. Sie äußert sich unter anderem darin, dass der Wirt, der sie in sich trägt, 1.) 12-Stunden-Schichten verabscheut und diese nur mangels Alternativen als Art des Broterwerbs akzeptiert, 2.) in der Regel ein interessantes Sexleben genießt und 3.) die meisten Gastwirte in seinem Viertel mit Vornamen anspricht. Auch reden ihn seine Kinder nicht mit „Onkel“ an, und wie man eine Waschmaschine bedient, weiß dieser Typus Mensch in einer prozentual wesentlich höher angesiedelten Anzahl.

Es zeigt sich also: Mittelmaß kann auch Spaß machen! Das verkennen jene Kritiker, die dieses arg missbrauchte Wort ständig als Maßregelung sowie Kennzeichnung einer ihrer Ansicht nach verkorksten Situation und der ihr innewohnenden Gründe nutzen. Sie haben sich also dieses Wort angeeignet, es sozusagen okkupiert und es belegt, ohne sich der negativen Auswirkungen bewusst zu sein. Das wäre nur fahrlässig. Wenn sie es allerdings wissentlich hingenommen, es billigend in Kauf genommen oder sogar bewusst herbeigeführt hätten, dann wäre man sicherlich berechtigt, von einer subtilen Art des Begriffs-Mobbing zu sprechen. Aber das führt jetzt zu weit.

Fakt ist, dass man auch als mittelmäßiger Fußballspieler Spaß haben kann. Viel Spaß sogar. Soviel Spaß, dass man sich trotz eigentlich nicht verheilter Meniskusquetschung zum Mittwochs-Training schleppt und dort, wenn der Motor erst mal warmgelaufen ist, so richtig aufdreht. Dass es zwei, drei oder in Einzelfällen auch vier Tage dauert, bis man auch im Alltag wieder schmerzfrei und ohne zu humpeln aus dem Auto steigt, wird in Kauf genommen. So viel Spaß, dass nörgelnde Ehefrauen schlicht negiert, häusliche Verpflichtungen verdrängt und Schwiegermuttergeburtstage verlegt (!) werden.

Es kann sich aber auch ausdrücken in einer gewissen Verkrampfung, denn nicht jeder Spaß drückt sich durch ein anhaltend im Gesicht getragenes Lächeln aus. Wenn sich erwachsene Männer auf dem Spielfeld Tiernamen geben oder sich ernsthaft überlegen, wie man den anderen umgrätschen kann, ist das an sich beim Fußball nichts wirklich neues oder erschreckendes. Eine gewisse Brisanz gewinnt das Thema immer nur dann, wenn es sich um die eigenen Mannschaftskameraden handelt. Noch unverständlicher wird es allerdings, wenn man in Betracht zieht, dass die eigene Mannschaft vielleicht sogar noch in Führung liegt. An der Stelle wird es Zeit für mein Lieblingszitat, den einmal der deutsche Kaiser prägte. Wie sagte Franz Beckenbauer so schön und unaufgeregt, als er eine Universalantwort für die ihm massenhaft gestellten Fragen erfand? „ Tja, so ist Fußball…“

Und das trifft auch auf die Volkssportfußballer von Turbine zu.

Es ist aber auch zu schön, wenn dann in einer der seltenen Sternstunden diejenigen Teams, die aus unseren Söhnen bestehen könnten, nach tapferer Abwehrschlacht über die gesamten 70 Minuten (90 mutet uns der Verband schon gar nicht mehr zu) mit nur einem Punkt oder gar geschlagen die Fahrt nach Hause in den Nachbarstadtteil antreten müssen. Oder wenn man als jahrelang verkannter Manndecker mal einen genau getimten Paß über 40 Meter schlagen konnte, bei einem Eckball vom Eckballtorschützen genau am Kopf getroffen wird oder – wie immerhin zweimal in acht Jahren geschehen – einen Freistoß treten durfte, der nur deshalb nicht zum so ersehnten ersten Treffer für mich führte, weil die gottverdammte dämliche Mauer im Weg stand. Aber reden wir weiter vom Spaß.

Ein wichtiger Aspekt ist derjenige, der mich bewogen hat, mit 35 Jahren noch einmal einer organisierten Fußball-Mannschaft beizutreten, welche einem geregelten Spielplan als Grundlage ihres Schaffens huldigt, in der ich leistungsmäßig – man hat ja immerhin ein paar Kilo mehr als beim letzten derartigen Engagement auf den Rippen – halbwegs mithalten könnte und kein Bankdrücker-Dasein fristen müsste und in der – natürlich – das Zwischenmenschliche stimmen musste. Denn Stress hatte ich damals, als ich der irreführenden Definition des Wortes „Mittelmäßigkeit“ noch voll und ganz unterlegen war, mehr als genug. Ich suchte also nach der Insel der Glückseligen.

Dass ich einen Volltreffer gelandet hatte, sollte ich sogleich, schon nach meinem ersten Einsatz für Turbine, feststellen können. Die Mannschaft war eben aus der I. Klasse abgestiegen, musste im Pokal auf dem im Volksmund „Gossendeckel-Platz“ genannten Acker einer unterklassigen Mannschaft ran. Die wirklich merkwürdige Bezeichnung resultiert aus dem aberwitzigen, aber wahren Fakt, dass im Strafraum über lange Jahre ein Gossendeckel seinen wichtigen Dienst versah. Zwar war das Relikt mittlerweile längst beseitigt, doch der Name hat sich selbstverständlich gehalten. Jedenfalls sah ich mich in meinem ersten Einsatz auf dem Gossendeckel-Platz an einem grausligen Kick beteiligt, der in einem Elfmeterschießen und – man ahnt es bereits ­- dem Ausscheiden in der ersten Pokalrunde mündete. Ich war also zu Hause! Denn ich hatte, wie erträumt, halbwegs mitgehalten…

Dass ich auch mit der menschlich mit der Mannschaft zufrieden sein konnte, machte mein Glück perfekt. Man kannte sich seit Jahren untereinander, war ungefähr im gleichen Alter, im gleichen Niveau, im ähnlichen Interessensbereich. Manche Mitspieler von damals verließen die Truppe inzwischen, die meisten blieben. Der Aufschneider Bernd, der unerschütterliche Hans, der mit 60 noch auf dem Platz stand, der überarbeitete Bert W. oder Peter, der warum-auch-immer nicht mehr kommt sowie die durch Verletzungen weggebliebenen Holger und Holger und Andy fehlten. Neue Kicker kamen hinzu wie der robuste Curti, der noch robustere Martin oder Frank K., der im Mittelfeld für sehr viel Belebung sorgte. Die nie aufgebenden Dauer-Verletzten nötigen immer wieder Respekt ab. Wenn Berts Verletzung gerade mal wieder besonders schlimm ist, steht er bei jedem Spiel draußen und coacht ein wenig. Auch Ingo ist oft da, auch wenn ihn eine Verletzung für die gesamte Halbserie aus der Bahn geworfen hat.

Und dann meine Dauer-Mitspieler! Torwart Falko („Falkone“), der als Hüter in dieser Klasse weit über dem Schnitt spielt, für Dauermecker-Attacken berühmt ist und gottseidank ab und an auch mal daneben greift, was dann für eine Weile Ruhe bedeutet. Frankie als Libero ist kaum auszuspielen und wegzudenken, eine Garantie für die lediglich elf Gegentore dieser Saison.

Manndecker Curt („weg da!“), der alle Flanken schlagen will und sich dafür auch mal mit einem Mitspieler anlegt, auf der anderen Seite Kirsche, der kaum ein Laufduell verliert, dafür aber schon mal die Spielberechtigung, die fünf Spiele Sperre wegen eines Foulspiels einbrachte. Oder „Methusalem“, wie Frank Wenige oft tituliert wird, der zuverlässig seinen Mann steht, wenn es darauf ankommt. Matthias, der manchmal schneller ist als der Ball, aber wenn seine erste Aktion gelingt, dann steht ihm niemand mehr im Weg. Sven, der Jüngste unter uns, was man ihm beim Laufen anmerkt und der richtig gute Spiele machen kann. Jens Götzel, der nicht nur organisiert, den Ball mitbringt und die Truppe zusammenhält, sondern auch Tore mit Ansage schießen kann wie gegen BW West. Ingo, der mit seiner Dynamik selten einen Ball verloren gibt und nach vorn viel mehr Dampf machen kann. Frank, der als Ballschlepper und –eroberer im Mittelfeld richtig Gas gibt. Rüdi, der geniale Pässe schlagen kann, als einziger Weitschusstore erzielt und auch einen sehr guten Ersatzlibero abgibt. Bert, der wie gesagt leider oft verletzt ist, sich damit aber nie abfindet und – wenn er spielt – gute Impulse setzen kann. Micha, der als einziger in einer Saison alle Positionen außer Torwart spielt und dabei immer gut aussieht. Martin, der erst warm werden muss, um seine Masse zu bewegen, dann aber richtig gute Sachen machen kann. Jan, der als einer der jüngeren Kicker bei uns auch der absolut schnellste ist und uns sogar Kontertore ermöglicht. Und Schubi, der eigentlich immer gerade einen Kreuzbandriß, Meniskusverletzung oder Bänderdehnung hat, aber immer mitspielt – außer, wenn der Arm in der Schlinge liegt. Er schießt die meisten Tore und ist unser verrücktester Fußballer, der sicher noch mit 60 spielen wird. Seit er durch Hans weiß, dass das nicht unmöglich ist, arbeitet er daran.

Die Jahre nach dem ersten Erlebnis auf dem Gossendeckel-Geläuf gingen dahin. Turbine wurde mal Vierter, mal Sechster. Mal bangten wir um den Klassenverbleib, mal gingen uns die Gäule durch nach zwei gewonnenen Partien am Stück und es wurde laut über Aufstieg nachgedacht. Es gab ein 0:5 im Pokal bei BW West, es gab ein 5:1 gegen irgendwen für uns, ich habe es vergessen. Beide Resultate blieben die absoluten Ausreißer. Die Statistik führen andere, aber ich bin mir sicher, das Rekordergebnis in den acht Jahren, die ich dabei bin, lautet 1:1. Als bekennender Nicht-Glücksspieler wäre ich fast bereit, darauf eine Wette zu setzen. Auch das 1:0 bzw. 0:1 wären Favoriten, nicht ganz die Nase vorn haben dürfte das 2:1 oder 1:2, wobei auch das nicht sicher ist. Man könnte ja mal Jens Götzel fragen. Wie eingangs schon erwähnt und ausführlich begründet, ist auch das Mittelmaß erträglich und macht Spaß. Das hatten wir schon geklärt. Und so kam es, dass nach dem Saisonverlauf der aktuellen Spielserie alles beim alten war. Sogar eher bedrohlicher. In der traditionell eigentlich stärkeren Hinrunde holten wir nur zehn Punkte, was für die meist vergeigten Rückrunde das schlimmste befürchten ließ. Und die begann auch nicht wirklich überirdisch: 2:0 bei TSV 76, dem späteren Absteiger. Daheim 0:0 gegen ATV, die wir auswärts noch besiegt hatten. Und die glimpfliche 1:2-Niederlage bei Viktoria, als wir uns wirklich gut verkauften und das 2:5 des letzten Jahres vergessen machten. Als wir drei Tage danach auch im Pokal knapp und überaus unglücklich bei TuS Leutzsch in der Verlängerung geschlagen wurden, sah alles nach einem überaus normalen Verlauf der Saison aus. Wir würden drin bleiben, keine Frage, aber mehr nicht. Eben alles wie immer.

Nach dem Auswärts-4:1 gegen WSG Mitte jubelten wir: Klassenerhalt gesichert! Drei Spieltage vor Schluß war das schon sehr gut. Aber es kamen ja noch zwei schwere Spiele gegen die beiden Erstplazierten, die wahrscheinlichen Aufsteiger, gegen die wir beide Male im Hinspiel verloren hatten. Von BW West hieß es, sie wollten gar nicht aufsteigen. Fünf Punkte Vorsprung vor dem Nächstplazierten (das waren wir!!!) sprachen allerdings eine andere Sprache. Allerdings kickten die Jungs tatsächlich so, als mieden sie die I. Liga wie der Teufel das Weihwasser, und als Jens Götzel an der Außenlinie die berühmt gewordenen Worte sprach: „Lass mich noch mal rein, ich mache heute mein erstes Saisontor“, bedeutete das die Wende. Er ging rein, wurde auf halblinks angespielt und vollendete gekonnt. 1:0, nur noch zwei Punkte! Bevor es nun aber zum Showdown gegen die als Aufsteiger mittlerweile feststehenden Jungfüchse von MoGoNo ging, musste erst die Pflichtaufgabe gegen TSV Grünau erledigt werden. Was hatten wir uns mit den Jungs um Kapitän Weide in den letzten Jahren für Schlachten geliefert! Doch nun traten sie Spieltag um Spieltag mit ein oder zwei Spielern weniger an, hatten erst einen einzigen Punkt und standen längst als Absteiger fest. Wenn jemandem ein Fairnesspreis zusteht, dann diesen Recken. Ich glaube kaum, das es jemandem anderem gelungen wäre, die Resignation so tapfer und aufrecht zu bekämpfen und die gesamte Saison lang durchzuhalten, wenn man doch weiß, auch im nächsten Kick steht man wieder in hoffnungsloser Unterzahl einem Gegner gegenüber, der alle elf Spieler auf dem Feld hat und sogar noch wechseln kann. Auch wir waren zahlenmäßig überlegen, doch Tore gelangen zunächst keine. Nur Schubi traf ein paar Mal Pfosten oder Latte. Unsere neue Qualität drückte sich aber deutlich aus. Nämlich darin, dass wir recht unaufgeregt weiterspielten und so am Ende den Tapferen aus Grünau sogar noch die höchste Saisonniederlage beibrachten. Das 7:0 war gleichzeitig auch das torreichste Spiel der Saison und auch der höchste Sieg eines Teams der Liga.

Und nun der Showdown gegen die Gohliser! Diese hatten den Aufstieg mittlerweile perfekt gemacht. Uns stand plötzlich das Tor zur zweiten Liga meilenweit offen, denn der immer noch auf dem 2. Platz stehende aufstiegsunwillige Kontrahent BW West hatte gegen den Absteiger TSV 76 sage und schreibe 1:5 verloren. Ein Sieg würde uns also in die erste Liga katapultieren…

Das Spiel hatte wie immer begonnen, es wogte ein wenig hin und her. Davon abgesehen, dass ich nach dem dritten Bier nach dem letzten Match von Rüdi den scherzhaften Auftrag bekommen hatte, gleich am Anfang mal „richtig reinzuhalten“, um Respekt zu schaffen, und ich das noch nicht angegangen war, war bis zur 20. Minute alles wie immer. Außer vielleicht, dass der Gegner natürlich schneller war als wir – aber nicht torgefährlicher. Und ganz normal war auch nicht, dass wir praktisch ganz ohne Sturm spielen mussten. Denn Jan fehlte wie in den letzten zwei Spielen schon wegen anderer Verpflichtungen, und Schubi hatte sich – ganz seinem Kamikazestil verpflichtet – den Arm ausgekugelt und stand mit dicker fetter Schlinge am Spielfeldrand. Und noch etwas war anders als sonst, denn unsere ehemaligen Mitspieler wie Holger und Holger und Chris waren gekommen, drückten uns ebenso die Daumen wie Bert und Ingo. Als ich nach 20 Minuten endlich meinen Gegenspieler „erwischt“ hatte, war der nicht mal sonderlich böse. Er ließ sich aufhelfen, nahm meine entschuldigende Geste warmherzig an und meinte, das könne jedem mal passieren. Kein Wunder, wenn man schon aufgestiegen ist – da kann man dem etwas ungeschickten grauhaarigen Herrn auch mal was durchgehen lassen. Wenn man nicht mehr der schnellste ist, trifft man schon mal daneben… Auch der zweite, den es aushob und der zwei Meter durch die Luft segelte, sah die Angelegenheit gelassen – wie der Schiedsrichter auch. Es herrschte also Harmonie auf der ganzen Linie. Wir kickten nun ganz ansehnlich, ließen den Gegner mittlerweile auch nicht mehr vor unser eigenes Tor gelangen. Ich hatte beschlossen, die Taktik zu ändern, wenn die Burschen sich schon nicht durch energisches Eingreifen beeindrucken lassen wollten, wollte ich sie nunmehr durch Präsenz am gegnerischen Strafraum beeindrucken – selbstverständlich nur so lange mich meine Beine den beschwerlichen Weg nach vorn trugen. Da wir ab und an auch einen Eckball für uns verbuchen konnten, war das eine reelle Chance. Ich hatte lange überlegt, ob ich den weiten Weg gehen sollte, da mir noch die Strapazen einer Offensivaktion am rechten Strafraumeck in den Knochen steckten, die mit zwei Flanken nach innen endeten, welche allerdings unverwertet blieben. Zudem war ich mir nicht sicher, was ich dort bewirken sollte, da ja – Achtung, kleine Gehässigkeit! – Curti die Flanke schlagen wollte. Im bisherigen Saisonverlauf waren seine Eckbälle, wenn ich tatsächlich mal mit nach vorn gegangen war, weit über mich hinweg gesegelt. Ich überwand meinen Zweifel und erwartete die Flanke. Strategisch war ich umgeschwenkt und wartete nicht mehr in Höhe des langen Ecks auf das Zuspiel, wie es bei Schubis Eckbällen meist sehr gut klappte. Ich verlagerte meine Präsenz vielmehr in den Fünfmeterraum, wo mich – der Gegner nahm mich schon in gewisser Weise durchaus ernst – ein Baum von einem Verteidiger abschirmte.

Meine relativ lange Vorrede beschäftigte sich ja vorwiegend mit der Beschreibung des Zustandes, wie er normalerweise herrschte, also bis zu dieser Stelle hier. Das ist bei einer Novelle so, nicht erst seit ich hier rumschreibe, sondern auch schon bei Kleist, Storm und Fontane. Diese Geschichte geht ganz anders aus als der Schimmelreiter, der sich verzweifelt in die tobende Nordsee stürzte, oder der Hradscheck aus Fontanes „Unterm Birnbaum“, der ein tragisches Ende erlitt. Zum einen beschreibt sie weder gesellschaftliche Zustände noch geht sie mit spitzer Feder vor, um zu sensibilisieren. Es handelt sich vielmehr um eine Momentaufnahme aus der Welt der Freizeitbeschäftigung eines gebildeten Mitteleuropäers jenseits der 40, der – wir erinnern uns – nichts gravierendes gegen das Mittelmaß vorzubringen hat. Und trotzdem findet sich im folgenden eine Charakteristika der Novelle wieder, ohne die es ja keine wäre, nämlich der Konflikt zwischen Ordnung und Chaos, die Einmaligkeit, der Normenbruch, der eine unerhörte Begebenheit darstellt, die sich in einer Novelle stets wiederfindet.

Diese unerhörte Begebenheit blieb nun allerdings zunächst noch aus, als der avisierte Eckball von Curti in den Strafraum segelte. Sicher zählt es zu den nicht alltäglichen Dingen, dass der Ball dieses Mal strikt auf mich zuhielt. Auch wurde die allgemeine Norm damit durchbrochen, dass der Hüne, der zu meiner Bewachung abgestellt wurde, sich völlig verschätzte und am Leder vorbeisprang. Doch damit hatte es sich mit dem Ungewöhnlichen, denn dass ich den Ball nicht richtig erwischte und so frei wie nie zuvor die beste Torchance nach acht Jahren Turbine kläglich vergeigte – das wiederum war nun völlig normal. Ich versuchte, mir keine Gedanken zu machen, und irgendwer rief mir betont aufmunternd zu, dass es dann eben beim nächsten Mal klappe. Jaja, dachte ich und schleppte mich zurück, wobei ich mir schwor, nach dieser Blamage nicht noch mal da vorn aufzutauchen. Zudem hatten wir gute 30 Grad Celsius, es war sehr schwül – also genau das richtige Wetter für ein Konditionswunder wie mich. Aber was soll ich sagen? Minuten später fand ich mich in exakt der gleichen Situation wieder. Ecke für uns. Wieder Curti raus zum Eckball. Und wieder ich im Fünfmeterraum. Und der Hüne erneut vor mir. Curtis Banane in unsere Richtung. Der Goliath sprang – vorbei! Und nun würde es wieder völlig normal enden – hätte ich wohl gedacht, wenn ich so schnell hätte denken können. Aber jetzt wird’s ja zur Novelle. Ich hielt die Birne wieder hin, wie durch einen Schleier registrierte ich den Einschlag des Balles im Netz, wand mich aus dem Fünfmeterraum und empfing die Gratulationen meiner Sportfreunde. Unnötig, das jetzt weiter zu dramatisieren. Wenn es das Schicksal so will, dass etwas ganz ungewöhnliches geschieht, tut es das einfach. Und verhindert im weiteren Spielverlauf selbstredend bei erneuten Großchancen den sicheren Torerfolg. Wenn, dass soll es schon das einzige, DAS entscheidende Tor sein, was Turbine nach so langer Zeit Mittelmaß das Besondere beschert.

Die Frage, ob wir nun, nachdem wir das spaßige Mittelmaß hinter uns gelassen haben, nur noch mittelmäßigen oder gar keinen Spaß mehr haben würden, weil in der Liga I die Verbissenheit regiert oder mehr Niederlagen drohen, als es uns vielleicht gut tut, wurde schnell geklärt. Augen zu und durch. Und wenn es zu stressig würde, zu viele Niederlagen unseren Glauben an uns selbst zu erschüttern drohten, dann hätten wir immer noch einen Trost, eine Hoffnung.

Die Rückkehr in die zweite Liga.

Zurück ins Mittelmaß.

Zurück zum Spaß.

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